Einer der letzten Abende der letzten Tage

Karlsplatz / Wien Karlsplatz / Wien

Es war ein Abend wie jeder andere. Naja, sagen wir, nicht ganz. Die Vögel zwitscherten, die Frühlingsluft war lau. Die Leute saßen wie seit Generationen auf ihren Bänken im Park. Kinder tobten auf den Spielplätzen und um den Brunnen am Karlsplatz tummelten sich paarungswillige Studenten aller Geschlechter und Geschlechterinnen mit Weißweinspritzern und halbkaltem Ottakringer in Pastikbechern.
Da lief ein motivierter Jogger im gestreckten Galopp über den Platz und man konnte anhand seiner soldatisch-stolzen Haltung seine Gedanken erraten: „So cool wie möglich, Klaus! Keiner soll sehen, dass Du fast an Hypoxie krepierst. Immer locker!“. Dort rauchten ein paar junge Eltern heimlich gemeinsam einen Joint, den sie vor ihrer im Gras spielenden Tochter versteckten. Aus den Lautsprechern der Bar tönte Gitarren-Jazz. Chill. Die Sonne stand schon tief, warf lange Schatten. Blaue Stunde.
Ein wundervoller Abend. Niemand ahnte, dass es einer der letzte Abende vor den letzten Tagen sein würde. Was das bedeutete? Auch das würde eigentlich niemand so genau wissen, denn „Wer wusste jemals wirklich etwas so genau…?“‘
„Ich!“, rief da ein Mann, der mit einem Schritt hinter einem Baum zum Vorschein kam. „Warum sprechen Sie?“, fragte die ältere Dame, die auf einer Bank saß und Tauben fütterte, „Sie sehen doch aus wie ein Pantomime!“ „Des bin ich a, gnä´ Frau!“, knauzte der weiß Geschminkte in gepflegtem Wienerisch zurück und zog mit einer gestreckten Verbeugung seinen Hut. „Und warum, sprechen Sie dann, Herr Pantomime…?“, setzte die ältere Dame nach. „Weil ich Dinge weiß, die sonst keiner weiß, Gnädigste!“ „Pah!“, schnaubte, die Freizeitgräfin, „DAS kann ja JEDER behaupten! Und ?Welche Dinge sollen das bitte sein, wenn ich fragen darf…?“ „Dass dieser einer der letzten Abende vor den letzten Tagen ist.“, entgegnete der Pantomime theatralisch konsterniert und senkte nachdenklich den Blick. „Wie darf man das verstehen?“, fragte die Alte nach. „Verstehen Sie es wie sie wollen! Ich habe mein ganzes Leben lang geschwiegen und mich verbeugt. Die Menschen dachten immer die Träne wäre nur aufgemalt und hatten nie mehr als nur Gelächter für mich. Es ist einer der letzten Abende vor dem Ende der Tage und ich werde ihn nicht mit Schweigen verbringen.“ Damit streckte er der Verblüfften mit einem höfischen Knicks eine rote Nelke, die er aus seinem Hut gezogen hatte entgegen. Verdutzt nahm die Dame die zerknitterte Blume, die ihr Köpfchen schon neigte und öffnete eben den Mund um dieses seltsame Gespräch fortzusetzen, da rief der Pantomime plötzlich aus vollem Hals: „Und !! Rääääächts ummm! Ümmmm Gleichschrütt … MARSCH!“ Er knallte preußisch die Haken zusammen, machte eine Drehung nach rechts und marschierte im Stechschritt davon.
Die Alte saß mit geöffnetem Mund da und starrte perplex dem schrägen Vogel nach, der im Gewimmel am anderen Ende des Platzes verschwand.
„Na gut…“, murmelte sie nach einer Weile in sich hinein – die Sonne war inzwischen gesunken – „wenn heute also wirklich einer der letzten Abende der letzten Tage ist, dann köpfe ich heute Abend diese Flasche Cognac…“

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