Etwas, was mir, als 1975 Geborener, immer wieder durch den Kopf geht, ist der sehr offenkundige Verlust von Feinsinnigkeit und Sensibilität.
In Adalbert Stifters Erzählung „Brigitta“ zeigt sich diese im 20. Jahrhundert aus meiner Sicht verloren gegangene sensible Feinsinnigkeit wo die tiefe unausgesprochene Liebe der Freundschaft zwischen Major Murai und Brigitta einen irreparablen Riss erfährt, weil der Major auf einem seiner Ausritte eine – aus heutiger Sicht durchaus leidenschaftliche, aber scheinbar belanglose Begegnung mit einer anderen Frau hat. Der unausgesprochene Treue-Schwur zwischen Murai und Brigitta, die ja letztendlich in keinerlei Beziehung standen als „nur“ Freundschaft, bricht durch eine harmlos anmutende Leidenschaftliche Begegnung mit einer Fremden. Aus heutiger Sicht mutet das – im Zeitalter von Polyamorie und Beliebigkeit in allen Lebensbereichen – befremdend an.
Auch Dostojevskij beschreibt in den Dämonen eine durchaus vergleichbare Situation wo sich die Feinsinnigkeit einer vergangenen Epoche von feingeistigen Menschen zu erkennen gibt. Trofimowitsch´s unausgesprochene (!) arrogante Annahme, die Petrovna würde aufgrund der Vertiefung ihrer Freundschaft einen Heiratsantrag erwarten, macht ebenjene – eine feinfühlige Frau mit hohem Verständnis für die feinen Untertöne menschlicher Mikro-Mimik und Kommunikation – so wütend, dass sie ihm ein schmallippiges „Das vergesse ich Ihnen niemals!“ ohne weitere Vertiefung der Angelegenheit hinwirft. Dostojevskij beschreibt die Beziehung Petrovnas zu Trofimowitsch als „Verachtung, der eine tiefe unaussprechliche Liebe zu Grunde liegt“. Etwas was mich an eine Frau erinnert hat, die ich vor Jahren mit naiver Inbrunst geliebt habe, und die mir eines Abends mit den Worten „Du hast eine Nachricht bekommen!“ und ohne weitere Erklärung meine Habseligkeiten vor die Tür gestellt hat, weil ich im Facebook-Manager von einer damals 22-jährigen Bekannten aus Hamburg, die meine Tochter sein könnte und die mich eine Zeit lang immer wieder in ihren jugendlichen Agenden um Rat gebeten hatte, ein graues Herzchen geschickt bekommen hatte. Dieses Ereignis erinnerte mich stark an Brigitta´s Feinsinnigkeit, wohlgleich sie nicht das war. Sie war nicht Feinsinnigkeit, sondern zutiefst verunsicherte Paranoia, aufgrund von Traumatisierung.
Trauma führt zu Hyper-Sensibilität, weil Trauma zu Hypervigilanz, zu erhöhter Wachsamkeit gegenüber „Gefahren“ führt. Das vegetative Nervensystem wird nach oben gefahren und bleibt in einem Zustand erhöhter Erregbarkeit.
Major Murai und Trofimowitsch waren in der Tat von der Feinsinnigkeit dieser bemerkenswerten Frauen als schuldig überführt worden. Ich hingegen war haltlosen Schuldzuweisungen ohne Grundlage begegnet und auch ich bin – gefangen in meinen eigenen Traumata – anderen Menschen in krankhaftem Misstrauen begegnet.
Wo ist sie? Die Grenze zwischen Trauma, Paranoia und Feinsinnigkeit…?
Dostojevskijs Warwara Petrovna und Stifters Brigitta geben die Antwort.
Ich bedaure einmal mehr den Verlust an ebenjener in unserer Gesellschaft, die in Beliebigkeit ersäuft ohne es auch nur annähernd zu verstehen.
Addendum:
Wenn man das Wort „Feinsinn“ googelt spuckt die Suchmaschine Restaurants aus.
Ein akkurates Bild wie es im Jahr 2023 um das Verständnis ebenjener bestellt ist.